Agni: Das heilige Feuer
Welche Art von Licht und Feuer kultivieren wir in unserem Leben? Schlussendlich werden wir alle vor diese Frage gestellt – nicht nur aber besonders in Zeiten von Herausforderungen und Krisen!
Reihen wir uns ein in die vorherrschende Beklagens- und Vorwurfsmentalität und schaffen so ein dunkles Feuer von Groll, Leid und Opferhaltung oder entzünden wir ein aufwärtsstrebendes inspirierendes Feuer von Innenschau, Mitgefühl, Liebe und Verbindung?
Wollen wir zweiteres werden wir nicht umhin kommen uns des yogischen Feuers der Selbsterforschung auszusetzen, um die eigenen negativen Tendenzen in das Licht des Bewusstseins zu heben.
Nur so können wir sie in eine positive Kraft umwandeln.
Agni im Yoga steht es für diese Transformation durch Hitze, Energie, Bestrebung und Selbstdisziplin, hin zu einem tieferen Gewahrsein der Ganzheitlichkeit und Verbundenheit.
Es ist die Umwandlung von all dem was in uns fest, hart, abgegrenzt, limitiert, unbeweglich, eng, dunkel und schwer geworden ist.
Es ist das komplementäre Prinzip zu Soma, des Loslassens, Empfangens, der Rezeptivität und der Fülle.
Hatha Yoga nutzt dafür zuerst einmal den eigenen Körper und Atem. Durch Reinigen und Balancieren der Energien (Ha, Sonne, Agni und Tha, Mond, Soma) wird eine größere Bewusstseinskraft erzeugt (Kundalini oder Yoga Shakti) und ein transformativer Prozess der Selbsterkenntnis kommt in Gang.
Herausfordernde Zeiten sind ideal, um diese innere Arbeit zu machen, weil wir leichter mit unseren negativen Tendenzen in Kontakt kommen.
Gleichzeitig bemerken wir dann auch oft deutlicher den Wunsch, und die Notwendigkeit, nach Veränderung.
Wir erkennen, dass etwas nicht ok ist, dass etwas schiefläuft, das etwas in mir und in meinem Leben nicht ok ist und das nur ich etwas dagegen tun kann.
Das ist der yogische Ansatz, nennen wir es mal so und diese Einsicht braucht schon ein gehöriges Maß an Bewusstsein, weil es bedeutet Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das ist gar nicht so selbstverständlich.
Die andere Reaktion ist, und leider oft: wir weichen aus und geben anderen wie z.B. Partner, Eltern, Staat, Politikern, Corona oder dem Schokoladenkuchen die Schuld!
Obwohl ich im Fall des Schokoladekuchens großes Verständnis habe, ist das Erkennen und Ablegen des Beklagens und der Opferhaltung, welche sich in Aggression nach außen oder zu sich selber äußern kann, elementar; vielleicht das wichtigste was wir machen können, um im Leben weiterzugehen.
Das geht nur wenn ich mich auf einer fundamentalen Ebene in der Welt wiedergespiegelt sehe und die Trennungen, Abspaltungen, Verdrängungen und Fragmentierungen in meiner Psyche aufdecke und wieder integriere.
Tatsächlich ist das impliziert in der Wortwurzel des Wortes Yoga, yuj für anjochen, zusammenbinden, anspannen, anschirren.
Es ist ein Überwinden aller Polaritäten. Es ist ein Aufruf gut/schlecht, schön/hässlich, links/rechts, männlich/weiblich, weltlich/spirituell hinter sich zu lassen zu einer Ebene, die all diese Dualitäten hervorbringt.
Yoga ist die Anerkennung und Realisierung das alles miteinander organisch verbunden ist mit bestimmten Qualitäten und Eigenschaften und dadurch alles, auch wir, einen wichtigen Beitrag leisten zu diesem „Lebensgewebe“. Mehr noch: In der letzten Analyse ist fundamental alles Eins. Das Individuum ist Ausdruck einer zugrundeliegenden Verbundenheit und Einheit und diese Einheit drückt sich in Vielheit aus. Durch dich und mich.
Was jeder von uns in diese Verbundenheit gibt, welche Einstellungen, Gedanken und Handlungen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gesamtheit.
Das dunkle Feuer der Trennung
In unserem täglichen Leben empfinden wir das jedoch jedoch oft völlig anders:
Wir empfinden uns als insignifikant und machtlos dem ‚Großen Ganzen‘ gegenüber.
Einfach deshalb, weil wir den Kontakt dazu verloren haben.
Das Gefühl von Kleinsein, Machtlosigkeit, Ohnmacht, Unwichtigkeit, Belang- und Bedeutungslosigkeit und Opfersein ist Ausdruck eines abgespaltenen und egozentrischen Bewusstseins ohne Verbindung zur Gesamtheit. Damit einher geht heimlicher (oder nicht so heimlicher) Wunsch nach Beherrschung, Größenwahn, Kontrollsucht und Narzissmus.
Die Auswirkungen dieser Spaltung sehen wir im schlechten ökologischen Zustand unserer Erde, in Krieg und Hass, in Umweltzerstörung und Artensterben, im erbarmungslosen Umgang mit den Tieren in einer industrialisierten Landwirtschaft aber ebenso im individuellen Leid wie Depressionen, Angstzuständen, Drogen-und Arzneimittelsucht, Einsamkeit, Nihilismus, und Fundamentalismus
All das sind die Früchte eines alten kollektiven Paradigmas der Trennung zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Kosmos, zwischen Geist und Körper, Vernunft und Gefühl. Es ist ein lineares mechanistisches und reduktionistisches Weltbild in welchem das Subjekt in eine Welt voller fremder äußerer Objekte blickt, welche entweder nützlich, nutzlos oder gar feindlich sind. Aber mit denen wir eigentlich nichts zu tun haben.
Nur wenn ich etwas als fundamental getrennt und anders empfinde, kann ich es ausnutzen und ausbeuten – für den eigenen Profit ohne Rücksicht auf andere Lebensformen oder sogar die eigenen Lebensgrundlagen.
Andererseits, wenn ich spüre das die Welt ein Teil von mir ist, oder sogar auf tiefer Ebene identisch und ich das auch so empfinde, gehe ich auch respektvoll mit ihr um.
Viele von uns erkennen und spüren, dass es so nicht weitergehen kann. Und in der Tat:
Nur wir können die Achtsamkeit und das heilige Feuer wieder in die Welt bringen: in unsere eigene Welt, in der Art wie wir uns selbst betrachten, wie wir miteinander umgehen und durch herausfinden, welche Werte wir wirklich leben wollen.
Eine andere Welt, ein neues Feuer, eine neue Geschichte muss durch jeden von uns, durch eigenen Einsatz und der Auseinandersetzung mit dem Paradigma in uns selber geboren werden. Yoga kann uns dabei unterstützen. Vor allem wenn wir die Idee, von dem was Yoga ist, erweitern.
Das Feuer der Heilung
Yogapraxis ist nicht nur eine Praxis für das eigene persönliche Wohlbefinden, sondern hat Implikationen die weit darüber hinaus gehen: man könnte sagen,
Yoga ist die Realisierung eines einzigen großen Ökosystems.
So gesehen beginnt Yoga, wenn wir unser Kleinheitsdenken und Zweifel hinter uns lassen und anfangen unser Leben in den Dienst einer größeren Energie und Verbundenheit zu stellen.
Sich selber Annehmen und Lieben zu lernen ist der Schlüssel, abgesehen
von einem tiefempfundenen, nicht nur mentalem, Wunsch nach Veränderung.
Eigene Heilung auf der persönlichen Ebene ist die Voraussetzung taube und narkotisierte Bereiche neu zu beleben und über das persönliche hinauszugehen.
Sich zu erlauben wieder zu spüren und seine Sensitivität zu entdecken ist enorm wichtig.
Eigene Werte und Intentionen zu hinterfragen und neu auszurichten, am besten auf das Höchste (hier keine falsche Bescheidenheit…) gibt uns Raum zu wachsen und alten Ballast abzuwerfen.
Nur wenn wir unsere eigene Welt verändern, verändern wir die Welt um uns herum.
Wir können z.B. beginnen unsere Lebensfeuer in verschiedenen Aspekten zu untersuchen und langsam versuchen das Brennen der Flammen in diesen Bereichen zu verbessern.
Auf individueller Ebene werden im Yoga und Ayurveda 3 Feuer unterschieden:
1. Das Verdauungsfeuer des Körpers, Jatharagni:
Wie ernähre ich mich? Nahrung wird zu unserem Körper und hält ihn aufrecht.
Gesunde, möglichst natürliche und vegetarische Nahrung ist am besten geeignet, um das Verdauungsfeuer optimal am Brennen zu halten.
Abgestimmt auf unsere individuelle Konstitution, wie im Ayurveda empfohlen, versorgt es die Körpergewebe mit den nötigen hochwertigen Nähstoffen und hat dann direkt Einfluss auf unsere Energie.
Vegetarische und regionale Ernährung schont Ressourcen, verbraucht weniger Wasser und ist nachhaltig.
Im Kontext des Yoga ist Ahimsa (Gewaltlosigkeit) eines der wichtigsten Prinzipien. Fleischlose Ernährung fügt anderen Wesen am wenigsten Leid zu.
2. Das Energetische Feuer, Pranagni
wird erzeugt und aufgebaut durch ist all das was uns Energie gibt…oder nimmt.
Atem und die Umwandlung von Sauerstoff in Lebenskraft durch Atemübungen und bewusstes Atmen sind hier wichtig.
Die Verbindung zu Natur ist der beste Energielieferant: Spaziergänge im Wald, frische, saubere Luft, ausreichend Bewegung und Sport.
Macht mir meine Arbeit Spass und erfüllt sie mich? Ist sie in Übereinkunft mit meinen tieferen Werten und Überzeugungen?
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Qualität der Beziehungen, die wir haben.
Sind sie erfüllend, liebevoll und nährend oder kosten sie uns Energie und ziehen uns runter?
Beziehungen zu Gleichgesinnten (im Yoga Sangha genannt) gibt Unterstützung und Motivation.
3. das Geistige Feuer, Manas Agni
Es wirkt im Geist durch die Umwandlung und Verdauung von Sinneseindrücken in unsere mental – emotionale Erfahrung.
Welche Gedanken kreisen im Kopf und kultivieren wir auf täglicher Basis, welche Ideen und Sichtweisen nehmen wir auf?
In der Psychologie des Yoga ist der Geist selber ein Teil der Natur und natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Der Geist wird aufgebaut aus den Sinneseindrücken, welche in eine scheinbar kohärente Welt interpretiert werden.
Deshalb ist Achtsamkeit für mit was wir den Geist ernähren so wichtig. Sind es negative, polarisierende, extreme oder anderweitig schwerverdauliche Eindrücke?
Damit das Geistfeuer optimal brennt braucht es gut verdauliche Nahrung, kein überstimulierendes Junkfood welches zu innerer Verstopfung führt.
Gleichzeitig wird empfohlen die Fähigkeit der Beobachtung der Gedanken zu trainieren, um seine zugrundeliegende Weite und Klarheit zu erfahren.
Genauso, wie wir nicht ständig essen sollten braucht auch der Geist natürliche Pausen der Stille und Erholung.
Welche Werte strebe ich an? Lebe ich sie oder sind es nur schöne Ideen?
Dreht sich alles um mich und meine kleine Welt oder weite ich meine Perspektive und stelle meine Energie in den Dienst zum Wohle aller?
Auseinandersetzung mit Spiritualität, Lesen von inspirierenden Texten, hören von passender Musik und Mantras, Beschäftigung mit Ideen die Harmonie, Vergebung und Liebe betonen, stärken diese Eigenschaften in uns.
Die Kultivierung einer Wertschätzung und Zufriedenheit für das was wir haben und unserer natürlichen Lebensgrundlagen, von denen wir abhängen hilft, positive Emotionen und Dankbarkeit zu erfahren. Auch hier gilt: die Rhythmen, Farben und Geräusche der Natur haben die größte Heilkraft auf den Geist.
Langsam eine eigene regelmäßige, integrale Yogapraxis zuhause zu etablieren ist ein guter Anfang.
Lieber kleine Schritte als zuviel vornehmen!
Lebenstilanpassungen inspiriert von Ayurveda und Yoga und eine allgemeine Spiritualisierung des Alltags schaffen den Kontext für positive Veränderungen und helfen Yoga auf alle Aspekte des Lebens auszudehnen.
Jetzt ist der beste Zeitpunkt damit zu starten oder die Praxis zu intensivieren und das Agni zu einem starken Feuer werden zu lassen.
Und als Erinnerung:
Für Yoga braucht man nicht flexibel sein oder spezielles Wissen.
Yoga ist das Einstimmen auf die eigene Essenz – und diese zu leben.
Es ist das vollständige Partizipieren in der Fülle des gegenwärtigen Moments.
Egal ob mit oder ohne sogenannter Krise.
Dann ist jeder Atemzug pures Soma (Nektar)
Gerade jetzt kommt es darauf an, dass unser Feuer stark und ausgeglichen brennt.
Keep the fire burning
much love,
Ralf
Lokah Samastah Sukhino Bhavantu
ॐ महाज्वालाय विद्महे
अग्निदेवाय धीमहि
तन्नो अग्निः प्रचोदयात्
oṃ mahājvālāya vidmahe
agnidevāya dhīmahi
tanno agniḥ pracodayāt
Wir meditieren über Agni, den stark Lodernden. Möge Agni mir Klarheit geben.
Oh Agni, bitte bringe mir Erkenntnis und Inspiration.