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Wespenstiche – oder wie die Angst vor dem Tod Hingabe und Dankbarkeit ermöglicht!

von Aug 4, 2021Artikel, in der zeitschrift yoga aktuell, Inspiration, philosophie

In der zeitschrift yoga Aktuell

Ausgabe Aug/Sept 2021

Wespenstiche

Übersetzung aus dem englischen von Nina Haisken, Yoga Aktuell

ES ist wieder passiert.

Ich bin von einer Wespe gestochen worden – und da ich in hohem Maße allergisch bin, brachte mir dies einen kurzen Aufenthalt auf der Intensivstation ein: den nunmehr dritten. Auf dem Nachhauseweg gingen mir ein paar Gedanken durch den Kopf, die ich hier mit dir teilen mochte.

Ja, es geht mir wieder gut. Die Kombination aus mitfühlender Fürsorge und Eiscreme sowie kostlichem Pflaumenkuchen von meiner Partnerin Daisy, zuvor ein arztlich verschriebener Cocktail hochwirksamer Chemikalien gegen den allergischen Schock, der durch meine Venen floss – all das hinterließ in mir ein Gefiihl entspannter Weite und eine angenehme Gedankenleere.
Nett… Vielleicht entspricht das der auf medizinischen Drogen basierenden Vorstellung von Erleuchtung des 21. Jahrhunderts? Aber mal ernsthaft: In Momenten wie diesen ist man trotz eines gewissen alternativen Lebensstils sehr dankbar fiir die moderne Medizin!

Es ist erstaunlich und interessant, zu erkennen und zu erfahren, dass man <lurch ein kleines Insekt, von dem man – zumindest im Sommer – standig umgeben ist, ster­ben kann (oder durch ein Virus, das sogar noch kleiner und gar nicht sichtbar ist), und dass man binnen eines einzigen, kurzen Augenblicks vollstandig die Kontrolle iiber ,,seinen” Karper verlieren kann. Er macht plotzlich sein eigenes Ding, vielleicht stirbt er sogar! Und ,,man”, oder das so genannte ,,Ich”, hat überhaupt keinen Ein­fluss darauf.
Das Gleiche gilt fiir den Geist. Obwohl ich natiirlich Gedanken der Besorgnis hatte, erschienen sie mir weit weg, ohne Substanz und in keiner Weise ,,griffig” bzw. geeignet, das, was da geschah, zu erklaren oder sinnvoll einzuordnen. Stattdessen war da eher die Wahrnehmung eines Feldes, das – man konnte sagen – eine Prasenz beinhaltete, die nicht naher spezifiziert war. Ich mi.isste dazu mal Ramana Maharshi fragen …

ES GIBT NICHTS ZU TUN

Auf eine eigenartige Art und Weise hatte dieses Erlebnis auch deshalb etwas entspannendes an sich, weil es in dieser Situation nichts zu tun, nichts zu verhindern oder zu andern gab. Die Wespe hatte gestochen, es war bereits geschehen – nun konnte ich mich nur noch dem ergeben, was immer auf mich zukommen wi.irde. Hingabe ist die einzige ,,Handlung”, die Frieden bringen kann. Die Zer­brechlichkeit des Lebens und die – aus einer gewissen Perspektive – auBerst nichtige Bedeutung des ,,Ich” anzu­erkennen, ist eine Erfahrung, die Demut mit sich bringt. Es ist nun ma! so: Das Leben kann zu jedem Zeitpunkt ein plotzliches Ende finden, und ,,ich ” kann nichts dage­gen tun (ahnlich, wie ich auch nicht iiber meine Geburt

bestimmen konnte). All die glanzvollen Vorstellungen von zukünftigen Erfolgen, der Traum von Wohlstand, Bekanntheit oder Ruhm – oder von ,,spirituellem” Voran­kommen – können innerhalb kürzester Zeit zerbrechen. Es gibt keinerlei Garantie – auch dann nicht, wenn man sich bemüht, gesundheitsbewusst, achtsam und mit guten Absichten zu leben, oder viel Yoga praktiziert und an die ,,richtigen” Dinge wie Frieden, Liebe und Einheit glaubt. Das ist ein ziemlich beunruhigender Gedanke, mit dem wir uns für gewöhnlich nicht gerne beschäftigen, auch wenn wir tief im Inneren darum wissen.

Denn etwas in uns fragt sich, Bin ich etwa nicht das Zentrum des Universums? Der Fokuspunkt, das Wichtigste überhaupt? Schuldet mir das Leben nicht etwas? Glück, Freude, Gesundheit, Erfüllung meiner Wünsche; mindestens achtzig Jahre, in denen Nahrung, Unterkunft, Geld und ein so genanntes ,,gutes Leben” gewährleistet sind, oder, sogar noch besser, ein spirituelles Leben, das hoffentlich mit der Erleuchtung belohnt wird?” (Was auch immer Erleuchtung bedeutet – wir stellen sie uns in der Regel jedenfalls als Zustand vor, in dem sich alle Probleme auflösen und wir uns stets zutiefst erfüllt, glücklich und zufrieden fühlen).

Wespen sind für mich versteckte, wilde Zen-Lehrer. Sie sind eine gute Erinnerung daran, dass das Leben stets eine lebensbedrohliche Angelegenheit ist, und dass man nichts als selbstverständlich erachten darf. Das Einzige, was uns bleibt, ist der jetzige Moment – und irgendwie liegt, so kommt es mir vor,’ gerade darin die Wurzel immenser Schönheit.

In den Worten des Dichters Wallace Stevens:

“Death is the mother of beauty; hence from her, Alone, shall come fulfilment to our dreams and our desires…” (1)

,,Der Tod ist die Mutter der Schönheit, folglich rührt von ihm allein die Erfüllung unserer Traume und unserer Wünsche her.”)

Der Anerkennung der unbeständigen und unergründlichen Natur des Lebens entspringen – wenn man es wagt, sich ihr zu öffnen – Dankbarkeit, Verbundenheit und Mitgefühl. Es ist schwierig, Dankbarkeit für etwas zu empfinden, wenn es fortwahrend sicher und stabil bleibt. Man nimmt es dann schnell als selbstverständlich hin, weil es ja ohnehin immer da ist. Etwas Beständiges nehmen wir als langweilig und starr wahr. Deshalb sind wir von unserem Leben auch zuweilen gelangweilt – wir bewegen uns tagaus, tagein gewohnheitsmäßig in den immer gleichen mental-emotionalen Konstrukten. Auch mit unserer Yogapraxis geschieht das, wenn wir sie nach einem sich stets wiederholenden Schema als weiteren Punkt in unseren durchgeplanten Tagesablauf einfügen. Oft handelt es sich dabei um nichts weiter als einen Versuch, am Status quo festzuhalten und erschreckenden Emotionen oder unterdrückte Gefühle in Schach zu halten.

DIE GEFAHR VON LANGEWEILE UND GLEICHGULTIGKEIT

 Langeweile als dauerhafte unterschwellige Grundstimmung ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass man den Kontakt zum Leben verloren hat. Sie ist ein Zeichen für eine Taubheit und eine Dumpfheit, aus denen Gleichgültigkeit entsteht. Doch wenn man gleichgültig ist, dann ist man mehr tot als lebendig. Und wenn man nicht aufpasst, dann verkauft man sich das leicht als spirituelle Haltung und nennt es Gleichmut. Aber nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein!

Wenn man schon von ,,spirituell” sprechen möchte, dann kann man einen Hinweis auf wachsende Spiritualität darin sehen, dass man lebendiger, empfindsamer und engagierter wird – man spürt mehr, nicht weniger. Und man nimmt alles intensiver wahr. Entweder kann man davor zurückschrecken und das Leben als schwierig und als im negativen Sinne überwältigend betrachten -als einen Kampf, der am Ende aussichtslos bleibt -, oder man kann Verantwortung übernehmen und die Gegebenheiten als Herausforderung annehmen, sie zu erforschen und das Beste daraus zu machen.

DIE EIGENE WAHRHEIT FINDEN

Und wahrhaftig: Uns auf das Nichwissen einzulassen, hält uns gesund und munter und offen für Veränderung – vermutlich empfehlen deshalb alle großen spirituellen und religiösen Traditionen das tiefe Kontemplieren der Unbeständigkeit des Lebens. Es kann Konzepte und mentale Verhaftungen aufbrechen und befördert den Geist aus seiner Komfortzone heraus. Es öffnet dich für dein eigenes Verständnis, für deine eigene Erleuchtung sozusagen. lndem wir zulassen, dass die Wahrheit des Augenblicks hervorleuchtet, trauen wir uns, unsere Vorstellungen davon loszulassen, wie etwas sein sollte – und wie wir sein sollten. In diesem Sinne wird der Geist zu einer leeren Tafel, unbeschrieben von unserem angehäuften Wissen und unseren mentalen Konstrukten.

Ironischerweise ändert sich dadurch auch unsere Wahrnehmung von (bzw. unser Bedürfnis nach) Spiritualität oder Religion, denn das Leben zeigt sich als etwas, das jenseits von bestimmten Namen, Etiketten oder dogmatischen Ideologien ist, an die sich der Geist klammert. In dieser Hinsicht könnte es eine gute Idee sein, sogar die Vorstellung zu hinterfragen, dass es in uns – wie viele spirituelle Traditionen sagen – eine ewige, unveränderliche, freie, wunderbare Essenz gibt; ebenso den von vielen Religionen in Aussicht gestellten Übergang in einen perfekten Himmel nach dem Tod.

Ich sage nicht, dass all das nicht wahr ist; vielleicht ist es vollkommen zutreffend. Aber wer weiß das ganz genau? Und wie kann man es herausfinden? Einfach nur zu glauben, was andere sagen, ist nicht genug. Es liegt an jedem von uns, selbst die Wahrheit herauszufinden – durch eigenes Bemühen und eigene Erforschung. Für diese Erforschung bedarf es des Einsatzes unseres ganzen Wesens mit Körper, Geist und Herz. Möglicherweise stellen wir dann fest, dass wir die Vorstellungen von etwas Ewigem als eine Flucht benutzen: als tröstliches Konzept, das uns in einer Art von Trance hält, weil wir uns vor dem fürchten, was unter diesem Filter zum Vorschein kommen konnte, wenn wir ihn wegnehmen.

YOGA ALS VERBINDUNG – AUCH MIT DER VERLUSTANGST

In der Regel können wir über das Trennungsleid der menschlichen Existenz, also über unsere Begrenzungen, Unsicherheiten und Ängste, nur dann hinauswachsen, wenn wir sie uns ansehen und es zulassen, sie zu spüren. Das bedeutet auch, dass wir uns mit dem Thema Tod konfrontieren und es tiefgehend reflektieren sollten. Zu einer Konfrontation damit kommt es zweifellos ohnehin für uns alle irgendwann. Wir können uns davon abzuschotten versuchen, indem wir das Thema verdrängen, oder wir können uns lernbereit dafür öffnen. Je früher wir Letzteres tun, desto besser. Das soll übrigens nicht heißen, dass ich mich selbst als furchtlos betrachte. Im Gegenteil: Ich hatte stets – und habe noch immer – eine offensichtliche Angst vor dem Sterben. Aber wenn ich sie mir genauer anschaue, handelt es sich dabei eher um Verlustangst oder um eine Angst vor dem Loslassen. lch habe Angst vor dem Verlust des Lebens, der geliebten Menschen, der liebgewonnenen Gefühle und Sinneseindrücke, der Sinnesfreuden. Und auch davor, die Person zu verlieren, in die ich so viel investiere: mich selbst. Es ist die Angst tief auf dem Grund des Daseins: die Angst davor, nicht mehr da zu sein.

Yoga wird oft als Mittel für Verbindung bezeichnet. Aber in Wahrheit ist er die Verbundenheit mit dem Lebendig sein, in welcher Form auch immer es erfahren wird – inklusive der Angst davor, es zu verlieren.

HINGABE

Wie wandelt man nun auf Messers Schneide? Auf der einen Seite der Abgrund von Tod und Ausradierung, auf der anderen Seite der Trost des uns Vertrauten? Indem man sich in Hingabe übt, also durch vollkommene Präsenz im jetzigen Moment. Das heißt: Du wirst geradezu zu diesem Moment, der in den nächsten Moment hineinstirbt – anders ausgedrückt, du wirst zu einem Dahinfließen. Zum Fluss des Lebens, der mit dir identisch ist und der stets auch den Tod beinhaltet. Hingabe öffnet uns für das Wunder der Lebendigkeit, das dich steuert (und nicht von dir gesteuert wird). Leben und Tod sind offenbar nichts weiter als zwei verschiedene Aspekte ein- und desselben. Sie gehören zusammen. Solange wir den Tod nicht als Teil des Ganzen akzeptieren, können wir das Leben nicht voll erfahren. Und solange wir es nicht wagen, uns dem Leben und auch dem Tod zu ergeben, leiden wir!

 

Wie das Tao Te Ching (Vers 40) sagt:

Wiederkehr ist die Bewegung des Tao fließen ist der Weg des Tao
Alle Dinge werden aus dem Sein geboren Das Sein wird aus dem Nicht-Sein geboren (2)

 

Die Zeiten, in denen wir leben, können mit all ihren Unwägbarkeiten und den damit einhergehen Sorgen und Ängsten ein großes Tor für echte Transformation hin zu mehr Bewusstheit, Integration, Verbundenheit und Liebe sein.

Erhöhte Bewusstheit kommt für gewöhnlich mit dem Erkennen ihrer Notwendigkeit – wenn wir also erkennen, dass wir der Wahrheit ins Auge blicken müssen, statt die Dinge nur als das zu betrachten, das wir gern darin sehen möchten. Und das geschieht meist dann, wenn wir Schwierigkeiten gegenüberstehen oder uns in einer Krise befinden.
Ich vermute, dass die Menschen zu früheren Zeiten eine viel schärfere Wahrnehmung für die Gefahren und Unsicherheiten des Lebens hatten, diese zugleich aber auch viel mehr akzeptiert haben. Man bedenke: Es gab z.B. keine Antibiotika, bereits eine einfache Wundinfektion konnte den Tod bedeuten. Wahrscheinlich waren sie in vielerlei Hinsicht viel bewusster und aufmerksamer, weil der Tod viel stärker Teil des Lebens war als heutzutage. Heute haben wir ein Virus (oder Wespen), und aus irgendeinem Grund meint jeder, das sei nicht fair, das sollte so nicht sein und sei in unserem hochtechnisierten Zeitalter beinahe ,,anachronistisch”.
Nun, vielleicht brauchen wir ab und an eine Erinne­rung daran, dass wir als Menschen sterbliche biologische Wesen und integraler Teil eines größeren Organismus namens Natur sind.

Diese Erkenntnis konnte sogar eine heilsame Wirkung auf unsere Annahme haben, dass alles unserer Kontrolle und unserem Kommando untersteht oder unterstehen sollte. In der Zwischenzeit gebe ich mich dem Genuss des eingangs erwähnten Pflaumenkuchens hin … und hoffe, dass die Wespen mir fernbleiben! •

 

  1. Aus: Sunday Morning, erschienen in der Sammlung Harmonium (1923)
  2. Deutsche Obersetzung basierend auf einer Obertragung ins Englische von Stephen Mitchell

 

Ralf Schultz ist Yogalehrer und Leiter von Soma Yoga Freiburg. Er integriert in seine Arbeit ldeen und Einsichten der verschiedenen Traditionen des klassischen Yoga und Ayurveda bis hin zu westlichen Weisheitstraditionen sowie moderne wissenschaftliche und psychologische Ansätze. Im Soma Yoga Studio bietet er seit vielen Jahren Yogalehrerausbildungen sowie Weiterbildungen in Ayurveda und Meditation an.

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