
Brauche ich einen Guru? Gedanken zur Schüler- Lehrer Beziehung
Jedes Jahr im Juli wird in Indien Guru Purnima gefeiert. Es ist eine Feierlichkeit um den Lehrern* in seinem Leben zu gedenken und zu danken. Guru ist der Lehrer, Purnima ist der Vollmond. Der Vollmod symbolisiert den “erleuchteten” Geist. Wie der Mond die Sonne reflektiert kann sich unser Geist für das Licht des höchsten Bewusstseins öffnen und dieses reflektieren. Das wird als ein ekstatisches Erwachen und überwinden persönlicher Grenzen und Limitierungen erfahren. Aber unser Geist ist ein gewiefter Genosse und lässt nicht so einfach von seinen Überzeugungen und Gewohnheiten los, seien sie noch so einschränkend, leidvoll oder negativ. Deshalb war in den Yoga Traditionen die Rolle des Guru fundamental. Der Guru hilft uns, das zu sehen, was wir allein nicht erkennen – und zu lösen, woran wir unbewusst festhalten.
Guru bedeutet: von der Dunkelheit (gu) ins Licht (ru)
Der Begriff Guru bedeutet nicht nur einen menschlichen Lehrer sondern ebenso ein universelles Prinzip der Selbsttransformation. Es ist das in der Schöpfung angelegte bestreben Selbstausdruck, Wissen und Wahrheit auszudehnen und zu erfahren. Das kommt schön in dem Guru Stotram (siehe weiter unten) zum Ausdruck: Alles ist unser Lehrer: die Schöpfung, das Leben, die Schwierigkeiten und Hindernisse (die besonders). Wenn unsere Herzen offen sind sehen wir überall die Möglichkeit des Lernens und des Wachstums.
Wie Eckhart Tolle so schön sagte:
“Ich hatte viele Zen Lehrer – alle von Ihnen Katzen”
Verehrung ohne Personenkult
Das Thema Guru ist für viele kein einfaches. Wir verbinden damit Autorität, Hirarchien, Personenkult, Machtmissbrauch. Besonders die Bedeutung eines spirituellen Lehrers* ist in unserer eher materialistisch orientierten westlichen Kultur ein relativ unbekanntes Konzept. Anders sieht es in den östlichen Weisheitstraditionen aus wo der Guru oft eine zentrale Rolle einnimmt. Auch das Yoga ist ursprünglich eine Guru (Lehrer)-Shishya (Schüler) Tradition. Hat es dich auch schon mal irritiert das am Ende einer Yogastunde sich Schüler mit zusammengefalteten Händen leicht vor dem Lehrer verneigen?
Es ist sehr wichtig folgendes zu erkennen: Wenn wir uns im Yogaunterricht oder auf dem spirituellen Weg vor einem Lehrer verneigen, dann ehren wir nicht die Person, sondern die Lehre, die durch sie wirkt. Wir verneigen uns nicht vor einer Persönlichkeit – sondern vor dem Licht, das durch sie scheint. Dankbarkeit dem Lehrer – aber unsere Hingabe gilt der Wahrheit. Mit diesem Verständnis kann die Übung der Hingabe im (Yoga-) Unterricht, durch Hände zusammenlegen oder einer leichten Verneigung sehr heilsam sein. Deshalb experimentiere doch mal damit. Spüre bewusst deinen Widerstand atme tief ein und aus, bringe dir in das Bewusstsein wofür du dankbar bist: das du es überhaupt ins Studio geschafft hast, für das Lächeln deines Mattennachbarns, deine Katze zuhause, deine Familie, das Leben…und verneige dich!
Wie finde ich den „richtigen“ Lehrer?
Durch Entspannung; es gibt das alte Sprichwort: Ist der Schüler bereit, zeigt sich der Lehrer. Normalerweise sind die Personen und Beziehungen in deinem Leben jetzt genau die richtigen Lehrer für dich. Abgesehen davon bietet die Beziehung zu einem spiritueller Lehrer eine potente Möglichkeit die eigene innere Freiheit, die eigene Flamme – den eigenen inneren Lehrer – zu realisieren. Deshalb wird sie in der Yoga Tradition als die höchste mögliche Form menschlicher Beziehung betrachtet. Der Guru fungiert als Portal, als Magnet und Möglichkeit. Er führt den Schüler entsprechend seiner Qualfikation an Schwellen: durchgehen muss der Schüler selbst. Und wie das mit sehr potenten Beziehungen so ist: es kann unser höchstes Potenzial freilegen oder das Gegenteil. Der “äussere” Lehrer fungiert dabei idealerweise als Projektionsfläche durch die sich alte Muster, Verstrickungen und Bindungen zeigen und aufgelöst werden. Das jedoch braucht eine grosse Reife und das richtige Verständnis, die vor allem beim Schüler, aber auch manchmal beim Lehrer nicht immer vorhanden ist. Ein Klassiker: alte persönliche Projektionen (sehr beliebt: Eltern, Lover) werden aktiviert und ausgelebt und in dessen komplexen Drama bleibt die Beziehung stecken bzw der Schüler verlässt desillusioniert die Beziehung.
Guru-Yoga
Meine persönliche Meinung: Guru Yoga wie es in traditionellen Pfaden gelehrt wurde, ist heute nur für wenige wirklich geeignet. Viele von uns tragen tiefe Verletzungen im Umgang mit Autorität und Beziehung in sich. Wer sich auf diese Art von Schüler-Lehrer-Beziehung einlässt, sollte den inneren Ruf verspüren, schon an sich gearbeitet haben und eine gewisse Selbstkenntnis und Stabilität mitbringen. Wie sagte es Ramakrishna, ein Heiliger aus Indien so schön: „Suche nicht nach Erleuchtung, es sei denn, du suchst sie so, wie ein Mann, dessen Haare brennen, einen Teich sucht.“ Es gibt wunderbare therapeutische Ansätze die für uns westlich orientierte Menschen oft besser geeignet sind um “kleine” Feuer, wie Selbstwert- und Beziehungsthemen sowie Traumata zu löschen.
Während die Frage, ob ich einen spirituellen Lehrer brauche für viele “modernen” Fitness- bzw Gesundheitsorientierten Yogaschüler sowieso völlig irrelevant ist, kann es für andere der nächste logische Schritt sein um tiefer einzutauchen.
Woran erkenne ich einen problematischen Lehrer?
Hier eine kurze Checkliste –
Sei achtsam, wenn du folgende Anzeichen bemerkst:
- Die gesamte Aufmerksamkeit kreist um den Lehrer
- Es wird (direkt oder subtil) Unterordnung verlangt.
- Autoritärer, dogmatischer Unterricht bzw Teaching.
- emotionale Kälte und Humorlosigkeit
- Die Gemeinschaft wirkt ängstlich, unlebendig und abgeschottet.
- Kein echtes Mitgefühl oder Dankbarkeit dem Schüler gegenüber.
- andere Schulen, Lehrer oder Sichtweisen werden abgewertet
- Schüler die die Gemeinschaft verlassen haben werden abgewertet
- spiritueller Chauvinismus: Es wird vermittelt die eigene Methode, Schule, Sichtweise, Lehre ist die Beste, Tiefste, spirituellste…
- Keine Ermutigung an den Schüler den eigenen Weg zu gehen und das gelernte in die Welt zu tragen
- Kritik wird nicht akzeptiert, ignoriert oder sonstwie abgeschmettert.

Charisma lebt von deiner Energie
Generell sei ebenso achtsam bei sehr charismatischen Lehrern und achte darauf wem du deine Aufmerksamkeit und Lebenskraft schenkst. Charisma braucht Publikum und nährt sich von der Energie und Aufmerksamkeit anderer. Während es Teil einer funktionierenden Lehrer-Schüler Beziehung ist, dass dir der Lehrer Themen wiederspiegelt damit du sie auflösen kannst, wird er nicht versuchen dich an ihn zu binden. Natürlich, wie in jeder Beziehung gibt es verschiedene Phasen, die ein Committment und einlassen auf die Beziehung beinhaltet und braucht. Aber ebenso ermutigt dich jeder wahre Lehrer irgendwann (ihn / sie) loszulassen und deinem eigenen inneren Licht zu folgen. Ein guter Check kann sein: öffnet sich (noch) etwas in dir wenn du in der Nähe oder im Kontakt mit ihm / ihr bist, fühlst du Expansion, Inspiration, Neugier, gesteigerte Lebendigkeit? Oder verschliesst sich etwas, fühlst dich eingeengt, unfrei, klein gemacht und eingeschüchtert?…
Tipp: renn weg so schnell es geht!
Eine mystische Beziehung
Alles was wir sind und erreicht haben verdanken wir anderen Menschen, Tieren und Wesen die unsere Lehrer und Mentoren waren. Angefangen von unseren ersten Gurus: Mutter und Vater! Ebenso sind wir immer auch Lehrer für andere und lehren dadurch, wie wir leben, denken und handeln. Es ist gut das ab und zu zu reflektieren.
Eine Schüler / Lehrer Beziehung ist eine heilige Beziehung die wir unmöglich ganz erfassen können. Heute an Guru Purnima kann es eine schöne Möglichkeit sein, diese besondere Beziehungen zu würdigen. Es ist eine magische und mystische Angelegenheit des Herzens. In ihrer reinsten Form ist sie auf Liebe, Wahrhaftigkeit und gegenseitigem Respekt gegründet. Wo diese Qualitäten lebendig sind, wird Lehre nicht zur Belehrung, sondern zur Befreiung. Befreiung heisst, du stehst auf deinen eigenen zwei Beinen und folgst deinem eigenen (Seelen-) Licht.
Danke und Pranam (Verneigung) 🙏 an alle die Lehrer über die ich irgendwie durch Zufall, Glück oder Bestimmung ‘gestolpert’ bin und immer wieder stolper:
Amir und Samira Ahler, Dr. David Frawley, Yogini Shambhavi, Igor Kufayev, Clive Sheridan, Shri Anish, sowie Indien mit all den Meistern, Saints & crazy wisdom. Ebenso Pranam an Sundari Ma, meine beloved Daisy Bowman, Katzen und vor allem an all den Yoga Schülern die mich immer wieder neu inspirieren!
Om Jai Ma Guru!
Guru-Purnima-Praxis – die Lehrer ehren
Dauer: 10–15 Minuten
Ort: Ein ruhiger Platz – mit bequemer Sitzhaltung, vielleicht eine Kerze oder ein Bild, das dich inspiriert.
- Ankommen & Ausrichten (1–2 Min)
Schließe deine Augen.
Spüre den Boden unter dir. Nimm ein paar tiefe, ruhige Atemzüge.
Lasse dein Gesicht und Körper entspannen
- Innere Verneigung – Visualisiere deine Lehrer (3–5 Min)
Rufe in deinem Herzen einen Menschen oder mehrere ins Bewusstsein, die für dich Lehrer:innen im Leben waren – spirituell, menschlich, schmerzhaft oder inspirierend. (Vielleicht war es eine Yogalehrerin, eine Mentorin, ein Kind, ein Tier, ein Verlust, sogar ein Konflikt.
Lass jede dieser Figuren innerlich vor dir erscheinen –
und verneige dich in deinem Herzen.
Sage innerlich: „Ich danke dir. Du hast mich etwas Wahres über mich selbst gelehrt.“
sei offen und achtsam für die Gefühle die auftauchen, alle sind erlaubt.
- Der innere Guru – das Licht in dir (2–4 Min)
Lege nun die Hände auf dein Herz.
Visualisiere ein kleines Licht oder Flamme in dir
Wiederhole und chante das Mantra „Guru Brahma“ (oder nur innerlich) 3x
- Abschließen & Segnen (2 Min)
Zum Abschluss bringe beide Hände in Namasté oder berühre leicht deine Stirn – als Zeichen der inneren Verneigung.
Wenn du möchtest, sprich laut oder innerlich: Ich danke allen meinen Lehrer:innen – in dieser Welt und darüber hinaus.“
Öffne sanft die Augen. Schreibe die wichtigsten Erkenntnisse auf oder schreibe jemand einen Dankesbrief!
Om Shanti Shanti Shanti
Ralf,
Direktor Soma Yoga